Räumliche Gerechtigkeit

Grundlage für gleichwertige Lebensverhältnisse?

Gleichwertige Lebensverhältnisse erfahren seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre einen Bedeutungsgewinn. Die Gründe dafür liegen in zähen räumlichen Disparitäten und anhaltend intensiven Binnenwanderungen in die sog. „Schwarmstädte“. In der öffentlichen Wahrnehmung wird den explodierenden Boden- und Mietpreisen der Verfall von abgehängten peripheren ländlichen Räumen gegenübergestellt. Die Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien und die Resonanz, die diese auch in strukturschwachen Regionen erzielen, haben dazu geführt, dass wieder stärker über gesellschaftlichen Zusammenhalt und Gefahren eines räumlichen und sozialen „Abgehängtseins“ diskutiert wird. Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der sozialen Gerechtigkeit und der Gewährleistung von Teilhabechancen erfahren wieder Aufmerksamkeit. Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sollte daher als Politik zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in räumlicher Perspektive verstanden werden.

Räumliche Gerechtigkeit als integrierter Handlungsauftrag an alle staatlichen Ebenen

Das Konzept der räumlichen Gerechtigkeit, das in der Bayerischen Enquete-Kommission entwickelt wurde, unterscheidet vier Gerechtigkeitsdimensionen. Um den zunehmend bedeutenden Aspekt der Nachhaltigkeit zu integrieren, wurden die durch John Rawls und andere bereits eingeführten Gerechtigkeitsdimensionen der Verteilungs-, Chancen- und Verfahrensgerechtigkeit um die Generationengerechtigkeit ergänzt. Entlang dieser vier Gerechtigkeitsdimensionen lässt sich aus einer Subjektperspektive heraus eine politische Programmatik zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse entwickeln, deren Umsetzung ein intensives Zusammenwirken verschiedener staatlicher Ebenen erfordert (Multi-Level-Governance).

Verteilungsgerechtigkeit

Die Verteilungsgerechtigkeit beschreibt dabei die räumliche Verfügbarkeit von und die Zugänglichkeit zu Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, die ein würdevolles Leben im Alltag ermöglichen. Sie zielt auf die Möglichkeit zur Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse des Menschen ab und bildet damit eine wichtige universelle Basis, um ein gutes Leben führen zu können. Die für die alltägliche Versorgung und Gestaltung des Lebens notwendigen Güter, Infrastrukturen und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge müssen für alle in einer dem allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstand entsprechenden Qualität verfügbar gemacht werden. In Anlehnung an John Rawls sollten bei der Verteilung wichtiger Primärgüter vor allem Anstrengungen unternommen werden, um die am schlechtesten gestellte Gruppe besser zu stellen und eine Angleichung gegenüber besser Gestellten zu erreichen. Grundlegende Versorgungseinrichtungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge werden auf kommunaler Ebene gestaltet: das Angebot an Wohnraum, die Qualität des Wohnumfeldes, Verkehrsinfrastruktur, grundlegende technische Infrastrukturen (Verkehrswege, Energieversorgung, Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung, Breitband etc.). Auch Mobilitätsdienstleistungen, elementare Bildungs-, Sport- und Freizeitangebote werden durch die Kommunen bereitgestellt und in ihrer Zugänglichkeit und Qualitätsausstattung bestimmt. Alltägliche Versorgungsangebote wie Nahversorgung, medizinische Grundversorgung, soziale Dienstleistungen wie familienunterstützende Einrichtungen und Pflegedienste werden im wohnortnahen Umfeld ebenso erwartet wie eine hohe naturräumliche Qualität, intakte Umweltgüter oder die Gewährleistung von Sicherheit. Die kommunale Ebene spielt bei der Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit somit die entscheidende Rolle.

Chancengerechtigkeit

Chancengerechtigkeit setzt daran an, dass Menschen neben materiellen Grundbedürfnissen individuell nach Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentwicklung streben. Die Möglichkeit zur eigenständigen persönlichen Entwicklung und Freiheitsentfaltung, wie sie auch in Art. 2 des Grundgesetzes als persönliches Grundrecht festgeschrieben ist, ist damit zentraler Bestandteil gleichwertiger Lebensverhältnisse. Chancengerechtigkeit, verstanden als die Ermöglichung und Befähigung, eigene Lebenspläne zu verwirklichen, setzt dabei gleiche Startchancen voraus. Die Aufgabe eines modernen Wohlfahrtsstaates ist es dann nicht, überall identische Verhältnisse herzustellen, sondern die nötigen Rahmenbedingungen zu gewährleisten, die zu einer individuellen Verwirklichung der gewünschten Lebensführung befähigen und gleiche Chancen für alle ermöglichen. Chancengerechtigkeit wird insbesondere durch Infrastrukturen der Daseinsvorsorge verwirklicht, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen und unterstützen. Dabei handelt es sich um differenzierte weiterführende Bildungseinrichtungen, kulturelle Einrichtungen und Angebote, differenzierte Angebote für Sport- und Freizeitaktivitäten oder spezialisierte Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge und medizinischen Versorgung. Zudem sind die individuellen Entwicklungschancen von einem differenzierten Angebot an Erwerbsmöglichkeiten abhängig. Neben der Verfügbarkeit ist die direkte Erreichbarkeit und der barrierefreie Zugang zu diesen Chanceninfrastrukturen wichtig, was die Bedeutung leistungsfähiger und differenzierter Mobilitätsangebote unterstreicht. Ein gut erreichbares und ausgestattetes Netz Zentraler Orte kann einen wichtigen Beitrag zur Herstellung von Chancengerechtigkeit leisten. Somit ist das Zusammenwirken von Raumordnung, ländlicher Entwicklung, Regional- und Strukturpolitik mit den jeweiligen Fachplanungen von großer Bedeutung.

Verfahrensgerechtigkeit

Die Verfahrensgerechtigkeit ist elementar für den demokratischen Rechtsstaat. Sie sichert die strikte Gleichheit beim Zugang zu bürgerlichen und politischen Rechten und Grundfreiheiten. Verfahrensgerechtigkeit umfasst eine völlige Gleichbehandlung bei den Möglichkeiten der Mitgestaltung. Im Kontext der räumlichen Gerechtigkeit bedeutet Verfahrensgerechtigkeit ergo, dass allen Bürgerinnen und Bürgern überall gleiche Rechte und Möglichkeiten (!) der politischen und gesellschaftlichen Partizipation zur Verfügung stehen – sei es im Sinne der Beteiligung an lokalen Entscheidungsprozessen oder der Teilhabe an übergeordneten politischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Alle Bürgerinnen und Bürger haben den gleichen Anspruch auf Beteiligung und auf möglichst umfangreiche und qualitativ hochwertige Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Mitentscheidung.

Generationengerechtigkeit

Gleichwertige Lebensverhältnisse sind ohne eine nachhaltige Entwicklung nicht denkbar. Es kann keine räumliche Gerechtigkeit zwischen den Teilräumen geben, wenn diese auf Kosten der kommenden Generationen „erkauft“ wird. Generationengerechtigkeit fordert den Umbau unserer Wirtschafts- und Lebensweise derart, dass künftigen Generationen nicht nur gleiche, sondern möglichst bessere Naturqualitäten und stabilere, vielfältigere und verbesserte ökologische Verhältnisse hinterlassen werden. Das bedeutet, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Klimakrise in ihren Auswirkungen zu begrenzen, die Destabilisierung der Biosphäre aufzuhalten und zu einer Ressourcennutzung überzugehen, die die Reproduktionskapazitäten der Ökosysteme nicht überschreitet. Generationengerechtigkeit fordert von einer Politik zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse die rasche Transformation zu einer nachhaltigen Lebensweise inhärent mitzudenken und wirksam zu betreiben.

Dossier Räumliche Gerechtigkeit

Räumliche Gerechtigkeit – Neues Leitmotiv für die Raumentwicklung?

Der Rückzug aus der raumentwicklungspolitischen Verantwortung zugunsten der Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum hat soziale und räumliche Disparitäten vertieft. Dieser Entwicklung soll ein Modell entgegengesetzt werden, das wieder stärker am Sozialstaatsprinzip, einem sozialen und räumlichen Zusammenhalt, an Ausgleich und Teilhabe und ökologischer Verantwortung orientiert ist. Ob sich der Ansatz der räumlichen Gerechtigkeit und ein solches Staatsverständnis durchsetzt, wird in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre entschieden werden.

In dem Dossier skizziert unser Akademiepräsident Prof. Dr. Manfred Miosga das mit Ehrenpräsident Prof. Dr. Holger Magel entwurfene Modell der räumlichen Gerechtigkeit.

Schwerpunktheft ASG

Schwerpunktheft „Gleichwertige Lebensverhältnisse“

Beiträge von Präsident Miosga und WK-Vorsitzendem Michaeli

Im aktuellen Schwerpunktheft 02/2020 der von der Agrarsozialen Gesellschaft publizierten Reihe „Ländlicher Raum“ geht es um das Thema Gleichwertige Lebensverhältnisse. Mit Prof. Dr. Manfred Miosga (Präsident) und Prof. Mark Michaeli (Vors. des Wissenschaftlichen Kuratoriums) sind gleich zwei Akademie-Repräsentanten darin vertreten. Die Beiträge des Heftes behandeln verschiedene Aspekte gleich­wertiger Lebens­verhältnisse. Zum einen geht es um die Frage, wie sich Gleich­wertigkeit überhaupt bestimmen lässt, welche Parameter dabei einzu­beziehen sind und in welcher Form (z. B. als Mindest­standards). Hier stellt Miosga die in Bayern entwickelten vier Dimensionen der Gerechtigkeit vor. Zum anderen werden einzelne Lebens­bereiche heraus­gegriffen und in Bezug auf Gleich­wertigkeits­defizite und Möglich­keiten zu ihrer Überwindung betrachtet. Hier geht Michaeli auf Defizite im Wohnungsangebot ein.

Aufsatz Gleichwertiges Bayern

Gleichwertiges Bayern – Traum oder Realutopie?

Antworten auf zentrale Fragen der Land-Politik von Akademie-Ehrenpräsident Prof. Magel et al.

Ausgangspunkt war eine Umfrage von Prof. Magel – er hatte Experten aus Verwaltung, Kommune, Wissenschaft, Politik, Verbänden gebeten, ihm ihre persönliche Einschätzung und Meinung der Situation ländlicher Räume zu schildern.

„Insgesamt sagen alle Experten übereinstimmend, dass dank unterschiedlicher Förderprogramme, Initiativen und Projekte viel für die Entwicklung der ländlichen Räume angeboten und umgesetzt wird. Ihre Wirksamkeit wird allerdings sehr unterschiedlich eingestuft…“